Das alte Dorf von Capoliveri ist ein Knäuel von engen Straßen und niedrigen Gassen, auf der Spitze eines Hügels verschanzt, von dem man aufs offene Meer um die Insel erblickt. Heute würde es bloß als schöne Stelle mit Panorama-Ausblick betrachtet, jedoch hatte damals die Lage (von den ersten alten vorrömischen Siedlungen schon an) eine Verteidigungsfunktion, eher als ästhetisch.
Gerade die Römer gaben diesem Dorf den Namen von Caput Liberi, zu Ehren von der Gottheit Libero, sonst als Bacchus noch gekannt.
Offensichtlich wurde in der Zeit schon Wein hergestellt.
In vielen toskanischen Dörfer feiert man heute auch noch, anlässlich der Weinlese, dieses Verhältnis der Gemeinschaft mit der bäuerlichen Tradition. Der Gedenktag wird oft eher als Werbemittel ausgenutzt, um Besucher anzuziehen und die Ortschaft und ihre Produkte zu fördern. Im Fall von Capoliveri, bezieht sich es heute auf Tourismus.
Dionysisches Ritual
Wobei ich keine überfüllte Stellen liebe, und dazu ist das Traubenfest in Capoliveri viel besucht, habe ich an der XXI-Veranstaltung trotzdem teilgenommen: als Zuschauer muss ich dann zugeben, dass, unabhängig von dem „Werbezweck“ des Festes, nahmen die Einwohner so gern und begeistert an die Veranstaltung teil, dass man nicht zögern kann, diese sogar dionysisch zu beschreiben.
Besucher aus jedem Status und Alter nehmen daran teil wie an einem reinigendem Ritual, wo sie sich ganz mit dem Fest identifizieren, im Vergleich zur Homogenisierung der Gegenwart. Besonders die Junge, die das Fest in den vier Dorfbezirken organisieren, scheinen in diesem Gedenktag einen Identifizierungsanlass und eine Relevanz zu finden, die in der heutigen Zeit nicht mehr aufgewertet wird.
Es entsteht der Eindruck, als ob die Dorfbewohner eher an ein Ritual als an ein Fest teilnehmen.
Man hat dann das Gefühl dass, durch ihre minutiöse und manchmal erregende Rekonstruktion von Ereignissen der Vergangenheit, Schauspieler und Organisatoren den Mythos ihrer Gemeinschaft (die über Jahrtausende hinweg streng und gefährlich lebte) festhalten wollen. Auch wenn frei, war die Gemeinschaft oft in Belagerungszustand, nach seeräuberischen Handlungen und Überfälle von Sarazenen sowie von Imperial- und Kolonialmachten, die über Jahrhunderte immer wieder versuchten, die Hand an die schon geringe Bodenschätze zu legen, da wo selbst die Bewohner nichts anders als die eigene Arme besaßen, um das Land und die Mienen zu bearbeiten.
Eine Ewige Herausforderung
Obwohl klein, wie nach der toskanischen Tradition von Guelfen und Ghibellinen, ist das Dorf in vier Bezirke unterteilt, die gegeneinander antreten, aber nicht in der Art, wie es heutzutage passiert, d.h. mit Schwimmern, die durch die Dorfgassen vorbeiziehen, da wäre es hier nicht möglich: sogar eine Pferdekutsche könnte durch solche Gässchen nicht durchgehen!
Die vier Bezirke in Capoliveri treten stattdessen gegeneinander durch die Darstellung von täglichen Lebensszenen auf den eigenen Gassen an, wo historische Momente, auf die Besonderheiten von Capoliveri zugeschnitten, dargestellt werden.
Eine Anmerkung dazu: die vier Bezirke sind nach realen architektonischen Elementen genannt worden, die an sich Bände sprechen über die gequälte Geschichte von diesem kleinen Bergdorf am Meer, und zwar: Turm, Festung, Schutzwall, Festungsgrabe.
Klammer zu.
Folgend die Themen dieses Jahres:
• Ein Werktag im 1959, Wechseljahr aus einer traditionellen Wirtschaft zu einer Tourismuswirtschaft.
• 8. Oktober 1916, Eröffnung des Schulgebäudes, das heute noch die Grundschule hostet.
• 1946, das Wahlrecht der Frauen, wie im alltäglichen Leben von Capoliveri aufgenommen wurde.
• 11. September 1943, der Waffenstillstand in Capoliveri in der Zeit der Weinlese.
Jeder Bezirk inszeniert, auf einer oder mehreren Gassen, kurze Sketches und Szenen, mit Schauspielern in Tracht, die ganz spontan und leidenschaftlich aufführen.
Freie Auswahl, außer dem Keller!
Jeder Bezirk darf sich das Thema und die Ausstattung aussuchen. Die einzige Einschränkung in dem Sinne besteht darin, dass jeder Bezirk einen Keller hosten und eine Weinleseszene aufführen muss, die am Ende des Tages als eine tatsächliche Weinernte scheint.
Kostüme und Set-Design werden bis zur letzten Kleinigkeit gepflegt, und dies misst der Veranstaltung noch mehr Bedeutung bei. Die Freunde, die mich begleiteten sagten mir, dass vor ein paar Jahren, die Jury, nach der Überprüfung einer Aufführung, einen Bezirk bestrafte, da einige Weidenkörbe Made in China waren…
Der Bezirk, der die Herausforderung gewinnt, bringt eine Statue von Bacchus nach Hause: dies wird jedes Jahr ins Spiel eingeworfen, um eine tausendjährige Tradition weiterzuführen, die wie das alte und beliebte Getränk im Blut der Einwohner dieses Dorfes zu fließen scheint.
Ganz herzlich möchte ich mich bei meinen Freunden Maria Paola und Tiberio bedanken, die mit viel Geduld und sehr höflich ans Fest mitgingen.
Graziano Rinaldi